Idealerweise würde der Beitrag damit beginnen, das angekündigte Rezept schnell zu erklären. Aber was läuft schon ideal? Also fangen wir anders an: Ein kleiner, dunkelhäutiger Mann, Allgemeinmediziner mit Spezialisierung auf Chinesische Medizin sitzt vor mir. Der Blick ist streng und dennoch liebevoll. Eine gute Mischung für das, was er zu sagen hat. Nach eingehender Untersuchung der Körperfunktionen und ein paar Fragen, unterbricht er seine Notizen kurz, schaut auf und sagt einen Satz, der mich auch nach Jahren noch fasziniert:
„Sie haben sich mit dem Idealismus infiziert.“
Heute weiß ich, dass er einen großartigen Job gemacht hat. Damals wusste ich nicht so recht, hinter welchem Bild seiner Praxis ich zuerst nach der versteckten Kamera suchen sollte, und fragte mich ernsthaft, ob ich dafür tatsächlich mehrere hundert Kilometer zu ihm gefahren bin. Während ich noch suchte, teilt er mir noch Blutdruckwerte usw. mit. Hier endet meine Erinnerung.
Zurückblickend klingt es wie eine dieser Zen-Geschichten. Meister verpasst Denkzettel an Schüler. Nur war ich nicht auf der Suche nach Erleuchtung, sondern wollte einfach wieder funktionieren. Ich wollte doch nur von einem Arzt hören, wie ich wieder richtig leistungsfähig werde. Idealerweise natürlich. Aber statt meine Frage medizinisch zu klären, wird er philosophisch. Was ich zu dem Zeitpunkt nicht wahrhaben wollte, er hatte sie beantwortet. Ganz schlicht, ohne viel Tamtam. Das entsprach nur nicht meiner erdachten Ideallinie für eine solche Antwort, denn sie war unbequem. Da war nichts mit Überholspur, eher Rüttelpiste.
Der Duden erklärt zwei Bedeutungen. Den philosophische Idealismus mal weggelassen, bleibt folgende Definition:
„Idealismus: [mit Selbstaufopferung verbundenes] Streben nach Verwirklichung von Idealen (…)“
- dem idealen Partner (zur Not mit Hilfe von Elitepartner, Parship und Co.)
- dem idealen Freundeskreis (so wie „die anderen“ es auf Facebook, Instagramm und Co. vorleben)
- der idealen Karriere (mit Turbo-Abi in die Vorstandsetage, oder per Start-Up zur 4-Stunden-Woche)
- der idealen Freizeitgestaltung (Stichwort: Work-Life-Bullshit)
- der idealen Wohnung (Shabby chic zwischen Thermomix und Saugroboter)
- dem idealen Auto (existenziell: Popo- und Lenkradheizung)
- der idealen Ernährung (wenigstens vegan, paleo oder Low-Carb)
- dem idealen Körper (Körperkult mit runtastischen Werten auf der Fettwaage)
- dem idealen Sex (irgendwie besonders, zur Not Tinder oder Tantra)
- usw.
Am liebsten noch der ideale Kontostand, fast als heimliche Lösung, quasi die Idealzustandsbeschreibung in der Überschrift der Liste, damit die nachfolgenden Punkte überhaupt eine Chance auf Verwirklichung bekommen. Und tatsächlich ist es wirklich eine Frage des Preises, aber anderer Natur. Denn die Duden-Definition hat zum Glück einen Haken bzw. hier eine entscheidende Klammer.
[mit Selbstaufopferung verbundenes], heißt es dort. Ok, das erklärt zumindest schon einmal, warum ein Arzt es zum Thema machen darf. Offenbar zahlt der Körper die Zeche. Das Leiden wird quasi zum Tribut des Ideals. Und wenn wir mal einen Punkt aus der Liste oben auswählen und kurz überlegen, dann gibt es bestimmt schnell ein anschauliches Beispiel (Tipp: geht schneller, wenn wir bei anderen nach Beispielen suchen). Wir kennen genug Menschen, die sich in irgendeiner Weise beim Streben nach dem idealen Sex-/Partner (Stichwort: Tinder), im Konsum (Stichwort: Privatinsolvenz) oder dem Idealgewicht (Stichwort: Essstörung) verrannt haben. Es soll gar nicht im Detail um diese Fälle gehen. Sie haben nur alle etwas gemeinsam. Das vermeintliche, entartete Ideal wird unsichtbar immer weiter nach oben justiert. Noch ein Kilo, und noch eins, erst dann ist es gut. Ach ne, eins geht noch. Selbst wenn alle schon schreien, dass es jetzt schon nicht mehr schön aussieht, sieht der-/diejenige im Spiegel noch immer nicht das Idealbild. Fatal und nur zu lösen, wenn man seinen Idealzustand gesund und ganz bewusst lernt neu zu justieren.
Ideale Zustände sind also nicht per se zu verurteilen, sie werden erst dann zur Falle, wenn ich sie für mich falsch einschätze und mich dann für die Erreichung selber opfern muss. Jeder kennt das Gefühl, wenn er mühelos ein Ideal erreicht, das beschreiben wir zum Beispiel als Flow. Auf wundersame Weise scheint das Tun so perfekt zu mir zu passen, dass ich das Ergebnis einfach so erreiche. Das Gegenteil ist der Fall wenn wir fremde Ideale übernehmen oder uns an dem idealisierten Bild von anderen orientieren und mühsam abarbeiten. Damit wir das nicht vergessen, lassen wir sie uns per Push-Benachrichtung aufs smarte Phone schicken. So gibt uns Instagram pausenlos Einblick in die rosarote Welt von Stars und Nachbarn. So weit noch nicht schlimm. Nur vergessen wir leider zu schnell, dass die Photoshop-App mit Vintage-Filter, fünfunddreißig nicht veröffentlichten Selfie-Versuchen und das antrainierte Duckface für eine inszenierte Momentaufnahme sorgen. Wenn zwei Bockwürstchen-Beine am Pool liegen oder vier verliebte Füße braungebrannt in die gleiche Richtung schauen, ist das selbstverständlich nicht das volle Leben. Wir spüren es, wenn wir das Bild sehen. Es hat eigentlich den Charme eines verschluckten Besenstils, aber trotzdem brennt es sich auf unserer Netzhaut ein und schon beim nächsten Shoppingtripp spielen wir das Spiel mit, kaufen für ein modisches Selfie ein – nicht mehr für uns. Dann ist es passiert.
Wenn wir uns mit dem Virus infiziert haben, steht der vollständigen Identifikation mit dem Idealismus nichts mehr im Wege. Wir glauben tatsächlich ideal zu sein (oder viel trauriger: sein zu müssen, damit wir geliebt werden), machen natürlich möglichst alles richtig und werden selbstgerecht, selbstherrlich und zu guter Letzt ansteckend für andere. Getarnt als Perfektionismus durchzieht der Virus alle Lebensbereiche und führt zwangsläufig zum Ausbrennen, oder neudeutsch Burn-Out. Irgendeine Krankheit oder Krise stoppt uns auf jeden Fall, weil es einfach unmenschlich ist, was wir uns damit selber abverlangen. Auch wenn wir es in dem Moment verfluchen, es kommt eine Zwangspause, eine Chance zur Neuausrichtung und dem Raum für die Frage: Wonach strebe ich und was tut mir gut?
Deswegen kann es das Rezept auch nicht von außen geben. Kein Guru, kein Buch und keine Religion wird diese Frage in der richtigen Mischung für uns beantworten können. Sie können uns nur Impulse, Tipps und Orientierungshilfen bieten. Wir selber können nur immer wieder auf unseren Bauch hören, denn er verrät in aller Regel was uns schmeckt – in Form von Schmetterlingen, Kribbeln oder Krämpfen sendet er sein Feedback zu dem, was unser Verstand wieder mal als erstrebenswert erklären will. Wenn wir uns selber mehr Wert sein wollen, dann gilt es hier Selbstliebe zu praktizieren, indem wir total pragmatisch auf ihn hören. Und dann legen wir einfach beiseite, was uns nicht gut tut (Apps kann man übrigens auch löschen).
Abschließend etwas zum Titelbild und der Rezeptlogik: Ich koche sehr gerne und probiere neue Rezepte aus. Oft, wenn ich ein neues Rezept teste, stehe ich am Ende etwas schmunzelnd vor dem Ergebnis. Sieht gar nicht so aus wie auf dem Foto. Erst wenn ich das Rezept mehrfach mache und eigene Optimierung vornehme, wird es besser. Doch viel häufiger mache ich lieber etwas anderes: Ich improvisiere ohne Rezept, nehme das was da ist. So entstehen Eintöpfe, Aufläufe und Co. Die haben eins gemeinsam: Man sieht ihnen garantiert nicht an, dass sie fantastisch schmecken.
Das gezeigte Flow-Kochbuch gibt es übrigens hier: Flow Food 2016
1 comment(s)
Andre
Sehr schön geschriebener Text! Ich kann nur zustimmen, es stellt sich für mich darüber hinaus die Frage, ob man ein Ideal überhaupt erreichen kann oder […] Read MoreSehr schön geschriebener Text! Ich kann nur zustimmen, es stellt sich für mich darüber hinaus die Frage, ob man ein Ideal überhaupt erreichen kann oder dies überhaupt erstrebenswert ist (nun ja, sehen wir mal vom idealen Auto ab ;-) .... Lenkradheizung ist übrigens wirklich toll, wenn man erstmal über 40 ist ;-)) Read Less