Dieses Foto ist entstanden, während unsere neun Monate alte Tochter im OP lag. Wochenlang haben wir ergebnislos überlegt, wie wir den Tag wohl verbringen, wo ihr klitzekleines Herz angehalten werden muss, um es zu operieren. Wie gehen wir damit um? Was macht das mit uns? Wie können wir das aushalten?
Ich finde dieses Bild spricht. Es gibt eine vielleicht unerwartete Antwort.
Es waren tatsächlich unbeschreibliche Stunden und das ist eine Momentaufnahme. Insgesamt war es eine Mischung aus Tränen, Schweigen, Beten, Reden, Schreiben … Wir hätten es ahnen können, dass uns die intensive Auseinandersetzung, das Fühlen, Akzeptieren, Trauern und Loslassen in den ganzen Monaten zuvor, an diesem Tag nicht einfach verlassen sollte.
Und so waren wir da. Ganz. Klar.
Wie gehen wir damit um, dass das eigene Kind so schwer krank ist? Wie gehen wir damit um, wenn nicht einfach mit einem Eingriff „alles gut“ ist? Wie gehen wir damit um, dass wir sie zeitlebens mit dieser Krankheit begleiten? Das sind die Fragen, die wir uns gestellt haben. Immer und immer wieder.
Die Antwort kann nie pauschal ausfallen. So wie jede Diagnose hochgradig individuell ist, so ist auch ein Umgang damit nicht in ein Rezept zu packen. Dennoch haben wir eine Idee für uns gefunden, wie es klappen kann, nicht daran zu zerbrechen. Im Gegenteil, es macht uns vielleicht sogar ganz, heilt uns. Es bringt uns näher zusammen, als Paar, als Familie und als Teil der Gemeinschaft der Menschen, die den Weg mit uns gehen.
„Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus deiner guten und geliebten Hand.“
So schrieb es Dietrich Bonhoeffer aus dem Gefängnis (Von guten Mächten wunderbar geborgen). Zeilen die uns lange beschäftigt haben. Dankbar ohne Zittern? Mitgesungen ist das schnell, dieser Kirchenlied-Klassiker. Aber was, wenn der Kelch wirklich gereicht wird?
Da geht es ja nicht um blinden Optimismus. Kein „alles wird gut“. Er ist gefüllt bis an den höchsten Rand. Da hilft kein Verdrängen, da hilft kein Schönreden. Das Problem wird nicht weggezaubert, wenn man brav mitsingt. Das verspricht Boenhoffer ganz klar NICHT.
Wir hatten kurz nach der Diagnose die Vision von einem möglichen Weg ohne Leiden. Ohne eine Ahnung, wie das gehen kann. Wir haben das bis heute auch nicht voll raus und verfallen immer wieder dem Leid, den leidvollen Gedanken, die angstvolle Versionen der Zukunft beschwören. Aber uns gelingt mehrheitlich (ja, ich traue mich das mutig so zu sagen) ein Annehmen ohne Zittern, auch wenn es eben nicht nur „gute Nachrichten“ und Ergebnisse gibt.
Unsere Gesellschaft, ja wir alle sind so hedonistisch geprägt. Alles soll schön sein, Schmerzen gilt es zu vermeiden. Gut ist nur die Vorstellung von einem schönen, gesunden, perfekten, erfolgreichen Leben. Und nun erfahren wir, was es bedeutet, wenn diese Vorstellung, wenn wir gebrochen werden.
„führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.“
So heißt es weiter im Text. Ja, die Hülle oder Mauern um unsere Herzen, die mussten vielleicht wirklich erst gebrochen werden, damit wir wieder ganz werden können.
Es ist verrückt, aber unser Leben ist seit gut einem Jahr (seit bekanntwerden der Diagnose) objektiv betrachtet ein ziemlich bemitleidenswertes Gebilde, wie ein Gefängnis mit allein 2,5 Monaten Krankenhausaufenthalt und es hat uns viel abverlangt.
Und nie haben wir uns so wach, so klar und so voller Liebe gefühlt, wie in dieser Zeit und diesem Moment. Nie haben wir so viele bewegende Begegnungen gehabt, so lebendig gelebt. Klingt paradox, ist es auch. Es ist unser Weg, das Rezept in einem Ausspruch zusammengefasst:
Lieben was ist!
2 comment(s)
Kerstin
Ihr rührt mich immer wieder so zu Tränen der Liebe ❤️
Jorinde
So klar, so kräftig, so real, so Mut machend, was die „Tiefen“ des Menschseins betrifft, so ganz und alles umarmend❣️ Danke euch für euer gel(i)ebtes […] Read MoreSo klar, so kräftig, so real, so Mut machend, was die „Tiefen“ des Menschseins betrifft, so ganz und alles umarmend❣️ Danke euch für euer gel(i)ebtes Beispiel❣️ Ich umarme euch, Jorinde Read Less