Ein Jahr zurück. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung. Was genau Intensivmedizin bei Kindern bedeutet und wie ich damit umgehe, ich hatte keine Vorstellung. Und wenn ich heute davon erzähle, was bei unserer Tochter bisher alles gemacht wurde, dann blicke ich häufig in schmerzverzerrte Gesichter und höre so etwas wie:
„Oh Gott … das kann ich mir nicht vorstellen!“
Die Aussage ist voll OK, wortwörtlich genommen sogar richtig. U-Untersuchungen oder Zahnarztbesuche mit Kindern sollten, nein müssen für Eltern vorstell- und machbar sein. Mal ein Date mit der Notaufnahme wegen mittelgroßen Unfällen, auch damit gilt es sich anzufreunden. Den Rest lernen wir immer dann, wenn nötig. Es darf unvorstellbar bleiben.
Für mich war diese Uniklinik-Welt unvorstellbar. Nun sind wir dort angekommen und treffen auf Menschen, die auf unterschiedlichste Weise inmitten des unvorstellbaren Lebens leben. Zwangsläufig auch mit dem, was manchmal nur Millimeter weit weg ist (oder eintritt): dem Tod.
Wahrscheinlich etwas, was im o. g. Ausspruch immer mitschwingt. Niemand will sich vorstellen, dass das eigene Kind durch Krankheit und deren Behandlung so vielen Risiken ausgesetzt ist.
Tatsächlich geht dem Ausspruch oft ein „Oh Gott“ voran. In unserem Sprachgebrauch eine Floskel, nicht zu sehr zu bewerten. Aber an der Stelle finde ich es äußerst bemerkenswert. Die Dimension des Glaubens bzw. jeder Form der Spiritualität hat im Angesicht von Leid und Tod eine andere Bedeutung.
In geselliger Runde, bei einem Glas Wein am Grillabend, da ist schnell mal rausgehauen, dass es Gott (oder andere höhere Kräfte) nicht geben könne. Angeheizt durch eine (nachvollziehbare) Abneigung gegen religiöse Systeme, wird es gar ins Lächerliche gezogen, scheint hinterwäldlerisch und naiv.
Aber eine Intensivation ist kein Sommerabend, kein Debattierclub, keiner reicht Wein und gegrillte Maiskolben. Wohin soll ich dort selber mit meiner Angst, meiner Trauer, meinen Schmerzen, meinen Fragen? Was soll ich Menschen sagen, die gerade das Unvorstellbare erleben? Wie ordne ich Geschehnisse ein, für die es medizinisch keine Erklärung gibt – wundersame Wendungen zum Beispiel?
Ich habe in den letzten Wochen aufmerksam viele Gespräche erlebt, Menschen und uns selber in Momenten großer Sorgen, Hoffnungen und Ehrfurcht beobachtet. Und ich habe wirklich keine Idee, keine! Ich weiß nicht, wie ich Halt, Trost und Hoffnung leben, verkörpern oder verschenken könnte, wenn ich nicht bereit wäre, die spirituelle Dimension zu betreten.
Als wir unseren Pfarrer nach Bekanntwerden der Diagnose vor einem Jahr mit unseren Fragen und Sorgen konfrontierten, hat er uns etwas für uns sehr bedeutsames versprochen. Rückblickend für mich die größte erlebte Wahrheit: „Gott* lässt Euch immer die Kraft zuwachsen, die genau in diesem Moment gebraucht wird!“
Ist das nicht unvorstellbar? Die benötigte Kraft für einen zukünftigen Moment ist nämlich weder vorstellbar noch vorfühlbar. Sie ist (nur) für den benötigten Moment da.
Im Studium hat mich mal das Thema „Psychologisches Immunsystem“ begeistert. Heute wird auch gerne viel über Resilienz gesprochen. Für mich fügt sich das alles zusammen, nicht zu etwas künstlich trainierbaren, sondern ermutigend zu etwas, was uns zur rechten Zeit gegeben wird.
Und so ergänze ich den Eingangssatz um eine Kleinigkeit:
„Oh Gott … sei Dank, das muss ich mir nicht vorstellen!“
_______________
*Gott lässt sich im Text durch den Begriff „Universum“ oder eigene religiöse/spirituelle Vorstellungen ersetzen.
3 comment(s)
Susanne
Lieber Tim, ich bin berührt und dankbar, dass Eure Tochter solche Eltern hat. Die mit Gottes Hilfe wachsen. Ich denke an Euch und sende liebe Grüße […] Read MoreLieber Tim, ich bin berührt und dankbar, dass Eure Tochter solche Eltern hat. Die mit Gottes Hilfe wachsen. Ich denke an Euch und sende liebe Grüße und gute Wünsche! Susanne Read Less
Annette
Lieber Tim, du hast eine wundervolle Gabe, das unvorstellbare in Worte zu fassen. Vielleicht gelingt es, damit dem ein oder anderen mehr Zuversicht und Glauben zu […] Read MoreLieber Tim, du hast eine wundervolle Gabe, das unvorstellbare in Worte zu fassen. Vielleicht gelingt es, damit dem ein oder anderen mehr Zuversicht und Glauben zu geben. Ich bin selbst ein latent gläubiger Mensch, weil ich so erzogen wurde. Schon oft habe ich mir die Frage gestellt, warum „Gott“ hier und dort scheinbar nicht da ist. Aber die unterstützenden Worte eures Pfarrers finde ich sehr gut, verinnerliche sie für mich nochmal und wünsche euch weiterhin soviel Kraft, wie ihr sie braucht. Und dann die Liebe und Entspannung, wenn schöne Dinge passieren - wie z.B. ein kleines fröhliches Mädchen schaukelnd im Hängestuhl 🥰 Read Less
Marina Müller
Ich bin kein wirklicher Kirchgänger aber ich merke, wenn ich wirklich Hilfe und Rat benötige, rede ich mit Gott, da ich sonst niemanden mehr […] Read MoreIch bin kein wirklicher Kirchgänger aber ich merke, wenn ich wirklich Hilfe und Rat benötige, rede ich mit Gott, da ich sonst niemanden mehr habe. Danke für das was sie geschrieben haben, es berührt mich gerade sehr. Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen alles Liebe und viel Kraft alles zu bewältigen Read Less