Einen Schatten, den haben wir doch alle. Aus meiner Sicht besteht er aus unüberprüften, schmerzvollen Gedanken und Überzeugungen, die wir uns und leider zu oft anderen erzählen. So werden schnell Dinge für wahr erklärt, noch schlimmer so hingenommen und gelebt, dass sie sich schließlich noch selbst bestätigen (Selbsterfüllende Prophezeiung). So auch der Gedanke, dass Geschwister von chronisch kranken oder beeinträchtigten Kindern zwangsläufig im Schatten stehen.
In Gesprächen über unser Leben mit einem herzkranken Kind wird fast immer (echt!) der Bogen zu den Geschwistern geschlagen. Und in dem Kontext über die möglichen Auswirkungen auf das Leben der Geschwister gesprochen; in krassen Fällen wird gleich ein übler Verlauf prophezeit. Eine ältere Dame aus unserem Umfeld predigt es regelrecht bei jeder Begegnung, wie schlimm das alles für unsere dreijährige Tochter ist und sowieso noch werden wird. Das sei unvermeidlich.
Ist das wahr? Nun ist Vorsicht geboten, da es bestimmt viele kleine und erwachsene Kinder gibt, die ein Leben im Schatten ihrer bedürftigeren Geschwister erlebt haben. Es geht mir also nicht darum es zu leugnen. Ich glaube, dass es das gibt, in der Form, dass es für viele Menschen leider zur eigenen Wahrheit geworden ist.
Aber muss es unsere Wahrheit werden? Ist das ein Naturgesetz, wie es die Schattenanalogie vermuten lässt? Ich glaube diesen Gedanken NICHT! Ich möchte ihn in ein anderes Licht stellen.
Es ist alles hochgradig individuell. Und es beginnt doch damit, wie Eltern, wie eine Familie, wie das ganze Umfeld mit einer Situation lernt umzugehen. Wie wird etwas erklärt, wie werden Gefühle verarbeitet und gezeigt, wie ehrlich geht es zu? Wie werden die Geschwister eingebunden? Wie sind die Betreuungsmodelle während Krankenhausaufenthalten? Wie im pflegenden Alltag?
In der Hoffnung, dass wir das Richtige tun, haben wir uns für volle Transparenz und die Mitbestimmung im altersgerechten Rahmen entschieden. Intuitiv, nicht als angelesenes Konzept. Wir beantworten die Fragen, die von Geschwistern selber gestellt werden können. Wir verstecken nichts, kein Pflaster, keine Narbe, keinen Schlauch und keine Wahrheit. Wir zeigen unsere Emotionen und leben mögliche kreative Lösungen vor, wie man seine Bedürfnisse in schwierigen Zeiten befriedigt.
Und aus einer anderen Sicht passiert auch etwas sehr Exklusives. Niemals hätte ich unter „normalen Umständen“ als Vater so viel Zeit mit meinen Kindern alleine verbracht und eine große Nähe im Alltag aufgebaut. Auch schon etwas, was ich 2017 in diesem Beitrag über den verwandten (und ähnlich ätzenden) Begriff Scheidungskinder geschrieben habe.
Auf dem Beitragsfoto sitzt meine dreijährige Tochter mit mir beim Italiener in Bonn, direkt neben der Uniklinik. Zuvor war sie mit der Mama unterwegs, während ich mich um die Kleinste auf der Station gekümmert habe. Ein Wechsel, den wir wochenlang kennen und zeitweise zu unserer Normalität gehört.
Ich mag dieses Bild, weil wir beide nicht aussehen, wie man sich ein Leben in dieser Situation vorstellt. Uns geht es in diesem Moment sichtbar gut. Wir hatten einige Male ein Date in der Form und ich bin selber erstaunt, wie toll diese Restaurantbesuche gelaufen sind. Wir hatten Spaß, gute Gespräche und bewusste Zeit miteinander.
Natürlich ist es schön, wenn die ganze Familie mit am Tisch sitzt … aber oft sehe ich dann Kinder im Schatten von iPads sitzen. Bleibt die Frage, ob es kranke Geschwister braucht, um einen Schatten zu bekommen?
Ich drehe es gerne um, das kennt ihr schon:
arme Schattenkinder > reiche Sonnenkinder
Ich wünsche allen Kindern (und auch Eltern) in solchen Lebenssituationen, dass es sie auf unterschiedliche Weise reich macht, dass sie so früh lernen, das echte Leben mit allen Höhen und Tiefen zu meistern, dass sie den Blick fürs Wesentliche anders entdecken und lernen, dass man stets selber Licht und Liebe in sein Leben bringen kann.
2 comment(s)
Juliane
Soooo schön und sooo wahr! Danke dir, dass du so wunderbar darstellst, worum es wirklich geht: um Liebe. Begegnung und echte Verbindung! 💕
Brigitte
Lieber Tim, was für ein berührender Text zu Eurer knallharten Realität. Wir wünschen Euch und vielen anderen Eltern, die ebenfalls so eine knallharte Realität in […] Read MoreLieber Tim, was für ein berührender Text zu Eurer knallharten Realität. Wir wünschen Euch und vielen anderen Eltern, die ebenfalls so eine knallharte Realität in ihrer individuellen Form erleben, neben Kraft, Mut, viel Zeit auch wunderbare Menschen im Umfeld. Mutige Nachbarn, Freunde,…die nicht wegschauen und Kontakt vermeiden, sondern taktvoll und freundlich da sind und unterstützen, wann immer IHR es braucht. Liebe Grüße aus Schwaben von uns 😘 Read Less