Ich habe sehr viele Bücher. Abgesehen davon, dass das einen schlauen Eindruck macht und mein Bücherregal ziemlich bunt aussieht, ist es kein Geheimnis, dass ich nicht alle davon zu Ende gelesen habe. Es gibt eben solche, die packen mich, andere langweilen mich oder ich begreife sie einfach nicht. Für den letzten Neuzugang gilt eher, dass ich kaum begreifen kann, wie sehr er mich gepackt hat.
Wenn es eine Kritik an diesem Buch gibt, dann maximal am Titel:
Die Entscheidung liegt bei dir!
Wege aus der alltäglichen Unzufriedenheit
von Dr. Reinhard K. Sprenger
Der Titel ist mir zu unscheinbar. Es mag daran liegen, dass der Autor sich sonst im Umfeld der Managementberatung bewegt und sich nicht in die Riege der typischen Motivations-Gurus einreiht. Die verschießen ihr Pulver gerne schon auf dem Titel und haben später wenig Substanzielles im Angebot. So gesehen hat mich der Gehalt des Buches völlig unerwartet erwischt.
In drei Kapiteln
- Entscheiden können (Die Macht der Wahlfreiheit, Der Mythos der Sachzwänge, Opfer-Storys, Der Wille zur Ohnmacht, Grenzen der Freiheit)
- Entscheiden lassen (Bestrafung durch Belohnung, Burn-out, Der Sirenengesang des Lobens, Fragen gestellt – durch Fragen gestellt, Die Vorbild-Falle, Der Tod des Glücks)
- Entschieden leben (Glück folgt der Entschiedenheit, Das Geheimnis des Glücks, Erfolg ist, was folgt, Die Last der Ideale, Selbstbestimmt leben, Der trügerische Trost der „positiven Freiheit“, Ist Willensfreiheit eine Illusion, Ausblick: Eine Kultur der Selbstverantwortung)
gelingt dem Autor – aus meiner Sicht – eine wertvolle Zusammenfassung aller zentralen Lebensthemen, die ich mir ansonsten nur mühselig aus meinem gesamten Bücherregal extrahieren könnte (Kochbücher ausgeschlossen ;-). Ich meine das ganz ernst und bin mir sehr wohl bewusst, dass ich im letzten Blog-Beitrag einen kritischen Blick auf das Idealisieren gerichtet habe. Und deswegen sei betont, dass es mir nicht darum geht, Lobgesänge anzustimmen oder gar den Autor in den Himmel zu heben. Das schließt sich sowieso spätestens aus, wenn das Kapitel „Sirenengesang des Lobens“ oder „die Vorbild-Falle“ verinnerlicht wurde.
Es geht mir um den Inhalt. Da sind Ideen, Inspirationen und Gedanken, deren Verbreitung ich mir von Herzen wünsche. Nur ein paar kleine Highlights:
- Wir haben die Wahl! Das klingt so platt und einfach. Wenn ich das aber wirklich auf mich wirken lasse (und dabei können die zugehörigen Buchseiten natürlich helfen), werden mir der ganze WAHNSINN unserer weit verbreiteten Opferhaltung, die Beschuldigungen anderer in nahezu allen Lebensbereichen und die tatsächlich geglaubte Ohnmacht gegenüber Organisationen und Systemen so deutlich. Wir vergessen, dass wir für alles tatsächlich selber die Verantwortung haben.
- Wir verschließen die Augen! Wir glauben in der Liebe, der Erziehung und der Führung an ein FALSCHES System. Belohnung (oder noch schlimmer: Lob) und Bestrafung – auch bekannt als Zuckerbrot und Peitsche – zerstören langfristig Beziehungen, Kindheiten und die natürliche menschliche (Arbeits-)Motivation. Das alles passiert unter dem Deckmäntelchen des Guten, ist aber kollektiver Beschiss. Und dieser Beschiss wird uns deutlicher den je quittiert (nur ein Stichwort: Burn-out).
- Wir verpassen was! Wenn wir uns über die Vergangenheit ärgern oder ihr die Schuld für unsere aktuellen Umstände geben, während wir auch noch andauernd Ziele/Pläne/Wünsche/Sorgen der Zukunft durchkauen, dann geht uns das echte Leben im JETZT verloren. Das ist in diesem Sinne keine spirituelle Empfehlung, sondern eher eine Rechenaufgabe.
Mein Verstand wollte beim Lesen rebellieren, denn zeitweise wird das Buch sehr negativ. Es legt den Finger immer wieder in die Wunden. Meine innere Stimme meldete sich sofort: „Ich will doch Lösungen hören, keine Probleme!“
Gut, da ist grundsätzlich etwas dran. Doch da empfehle ich eine ergänzende Logik. Wir haben zu vielen Themen de facto keine optimalen, perfekten oder allgemeingültigen Lösungen. Nehmen wir das Glück, die Liebe, die Erziehung, Motivation oder die viel diskutierte Führung in Unternehmen. Trotz unendlicher Forschungbemühungen, so richtig auf den Punkt konnte bisher keiner ein Geheimrezept liefern. Es gibt aber genügend Antworten auf die Umkehrung. So wissen wir, was uns unglücklich macht oder was für die Liebe ungünstig ist (vorausgesetzt sie ist erst einmal da). Wir wissen, was Kinder nicht brauchen bzw. ihnen schadet. Und wir haben auch hinreichend Erkenntnisse darüber, was Mitarbeiter in den Wahnsinn treibt. Wenn wir all dies genau betrachten und die Verantwortung übernehmen, dies anzupacken und zu bereinigen, dann schaffen wir eine Hygiene, die Glück, Liebe, Erziehung und Motivation erst einmal möglich macht.
In diesem Sinne bin ich für jeden kritischen Gedanken in diesem Buch dankbar. Ich finde es gut zu wissen, welche Wunden gereinigt werden dürfen. Und es bestärkt mich in der Ahnung, dass das auch ein wichtiger Teil unserer Challenge hier auf dem Planeten sein könnte: Selbstverantwortung und -bewusstsein als Weg zum Glück.
1 comment(s)
Andre
Hallo Tim, die Gedanken von Sprenger begeistern mich ebenfalls! Noch ein Buchtipp, ebenfalls exzellent geschrieben und geht stark in die gleiche Richtung: Boris Grundl: "Mach […] Read MoreHallo Tim, die Gedanken von Sprenger begeistern mich ebenfalls! Noch ein Buchtipp, ebenfalls exzellent geschrieben und geht stark in die gleiche Richtung: Boris Grundl: "Mach mich glücklich: Wie Sie das bekommen, was jeder haben will" Read Less