Neulich war ich auf einem Vortrag über die Bedeutung der Digitalisierung für den Mittelstand. Während ich den Ideen über den Einsatz künstlicher Intelligenz in der Industrie lauschte, musste ich permanent an das Gegenteil denken: die Chancen der „Analogisierung“.
Schallplatten, Polaroid-Kameras, Notizbücher, „richtige“ Bücher und echte Briefe haben parallel Hochkonjunktur. Die digitale Entwicklung reanimiert totgesagte Techniken. So gurkt der Bilderbuch-Hipster mit seinem Retro-Hollandrad durch die autofreie Innenstadt, damit er seinen aufgebrühten Bio-Filterkaffee schlürfen kann, während er aus seiner veganen Kunstledertasche die Apple-Vollauststattung ausräumt und nach dem WLAN-Schlüssel fragt. Natürlich.
Irgendwie arrangieren sich da zwei Welten miteinander. Sie befruchten sich vielleicht sogar gegenseitig. Während alles unendlich schnell funktionieren kann, wird die Ästhetik der Verlangsamung wiederentdeckt. Ergebnis sind dann automatische Terminerinnerungen für das regelmäßige Achtsamkeitstraining. Wenn’s hilft.
In der Kindererziehung ist die Digitalisierung eine spezielle Herausforderung. Die eigene Vergangenheit ist auf den ersten Blick kein guter Ratgeber. Vergleiche hinken. Auch wenn ich einen Nintendo hatte, ist das nicht mit der grenzenlosen Spielewelt zu vergleichen, die im App-Store sofort und zum Teil kostenfrei verfügbar ist. Wenn wir heute auf einer Familienfeier sind, haben alle Tanten, Onkels, Omas und Opas eine grenzenlose Spielesammlung in ihrer Hosentasche. Und Großeltern sind nicht nur großartig, sondern auch großzügig (altbewährtes Konzept), aber lassen sich von einem Siebenjährigen in die besagte Tasche stecken, wenn es um die Smartphone-Bedienung geht. So umfasst die App-Sammlung der (Groß-)Eltern schnell GIGAntische Ausmaße. Das bringt entspannte Restaurantbesuche und ein schlechtes Gewissen, wenn die Nachbarskinder auf der Straße Hüpfekästchen spielen während die eigenen genervt das Ladekabel suchen.
Dann verliere ich mich in der Romantik der analogen Kindheit. War es vielleicht doch alles besser? Ich erinnere mich an stundenlanges Budebauen, überlaufende Staudämme, unseren Kirschenverkauf am Straßenrand, dressierte Meerschweinchen und Fahrradausflüge. Und genau die Erinnerungen machen mir dann Mut. Ich weiß noch, wie es sich anfühlt und mir ist klar, dass ich es arrangieren kann. Endlich habe ich etwas zu vererben.
Nicht immer, aber immer öfter gelingt es mir: Ich mache eine Zeitreise. Am vorletzten Wochenende haben wir einen Ausflug in den Wald gemacht und ohne Hilfsmittel ein Floß gebaut. Auf dem Weg in den Wald war das Geschrei groß, dass es attraktivere (digitale) Beschäftigungen gäbe. Zwei Stunden später hatte ich zu kämpfen, als ich bei Einbruch der Dunkelheit den Heimweg einläuten musste. Dank Taschenlampe im Smartphone dann auch nicht ganz so schlimm.
Am letzten Wochenende haben wir die Garage umgeräumt und eine Bastelwerkstatt eingerichtet. Stundenlang waren die kleinen Künstler verschwunden. Beim Essen diskutierten wir verschiedene Maltechniken. Den Einwurf, dass wir uns bei Pinterest Beispiele anschauen könnten, fand ich in dem Zusammenhang ziemlich effizient und legitim.
Ob die Kunstwerke nun digital ausgestellt werden oder wir die Großeltern zum Liken in die Garage bitten, haben wir noch offengelassen.
3 comment(s)
Peter
Hallo Tim, witzig, ich hab heute den gleichen Gedanken gehabt und mich gewundert, warum das Thema Digitalisierung gerade so extrem gefördert wird, obwohl es doch […] Read MoreHallo Tim, witzig, ich hab heute den gleichen Gedanken gehabt und mich gewundert, warum das Thema Digitalisierung gerade so extrem gefördert wird, obwohl es doch auch einen offensichtlichen Gegentrend gibt und Digitalisierung ja auch nicht mehr wirklich war neues ist. Ich habe das Gefühl die Politik hinkt da Jahrzehnte hinterher. Auf jeden Fall finde ich auch man sollte in beiden Welten das Gute fördern und Dinge nicht so dogmatisch sehen. Read Less
Joris
Hallo Tim! Ein ganz toller Beitrag der mich sehr zum Nachdenken angeregt hat. Wir empfinden den Umgang mit digitalen Medien auch schon als große Herausforderung […] Read MoreHallo Tim! Ein ganz toller Beitrag der mich sehr zum Nachdenken angeregt hat. Wir empfinden den Umgang mit digitalen Medien auch schon als große Herausforderung - und unsere Tochter ist erst knapp 2 Jahre alt. ???? Uns plagt auf der einen Seite das schlechte Gewissen, für jede Minute die wir ihr auf dem für sie so faszinierendem Medium gewähren, auf der anderen Seite bekommen wir dadurch stressfreie Minuten um in Ruhe im Restaurant zu essen, etwas zu kochen oder schnell das gröbste Chaos des Tages zu beseitigen. Auf der einen Seite "stolz" zu sein, dass das kleine Kind schon ganz selbstverständlich das Smartphone bedienen kann, auf der anderen Seite gelesen zu haben, dass Studien klar belegen, dass Fernsehkonsum (und damit vielleicht auch Smartphone-Nutzung) vor dem dritten Lebensjahr "nicht gerade optimal" ist. Aber ich glaube Du hast es schon ganz richtig geschrieben, eine gesunde Mischung aus beiden Welten ist wohl nicht nur gut für die Kleinen, sondern auch realistisch in der Umsetzung. All die hohen Ansprüche die Eltern an sich selbst und die Kindererziehung stellen, man muss auch mal durchatmen und locker bleiben! Wenn man immer mal wieder kurz innehält und guckt, ob sich die aktuelle Mischung richtig anfühlt, hat man glaub ich nen ganz guten Kompass wann man wie mal wieder gegensteuern und die Kinder in eine neue Richtung anregen sollte. ???? Read Less
Tim Tiede
to Joris
Hey, gute GeDANKEn dazu! Ich glaube auch, dass wir ein Gefühl für die richtige Mischung in uns haben. Letztlich ist es doch beim Essen ein […] Read MoreHey, gute GeDANKEn dazu! Ich glaube auch, dass wir ein Gefühl für die richtige Mischung in uns haben. Letztlich ist es doch beim Essen ein sehr ähnliches Thema. Und ihr habt mit Eurer Mampfbar (www.mampfbar.de) doch auch ein gutes Rezept entwickelt, wie man Kompromisse finden kann, die allen schmecken ;-) Und was wäre das Leben, wenn wir nur noch perfekt sind. Ich mag gesunde Smoothies genau so gerne, wie ein (paar) Bier mit Currywurst-Pommes. Warum sollten die Kinder denn nur Dinkelkeckse futtern, ohne sich auch mal ein Happy-Meal in den Bauch zu hauen :-P In diesem Sinne hat auch der Unterhaltungsspeiseplan bei uns Raum für Analoges und Digitales. Read Less